Birte Vogel: Hannover persönlich

Hannover.

Hannover? Was verbindet mich mit dieser Stadt? Gar nichts, um ehrlich zu sein. Weder zu einer Messe noch zur Expo habe ich sie je besucht. Ich bin schon einmal auf dem Bahnhof umgestiegen, das war es auch schon. Warum also sollte ich 14 Porträts irgendwelcher Hannoveraner lesen, von denen mir 12 gänzlich unbekannt sind? Andererseits habe habe ich auch schon Biografien chinesischer Kaiser, britischer Archäologen, norwegischer Polarforscher oder schwäbischer Erfinderehefrauen gelesen, ohne wirklich einen Bezug dazu zu haben. Hannover also. Warum nicht!

Autorin Birte Vogel wählte 14 Menschen aus, die in der Stadt leben (oder bis vor kurzem lebten), manche sind überregional bekannt, andere nur regional oder auch gar nicht. Sie alle prägten und prägen die Stadt, jeder und jede hat Spuren dort hinterlassen, ist der Stadt verbunden. Auf seine Weise ist jeder etwas ganz Besonderes: Die Hutmacherin ebenso wie der ehemalige Intendant der Oper, der ungarische Flüchtling und jetzige Rabbiner ebenso wie der Radrennfahrer, der Clown wie die engagierte Sintiza. Vogel beschreibt sie auf eine wunderbare, sehr feinfühlige Weise, mit einem scharfen Blick auf Details. Sie lässt uns an den Höhen und Tiefen im Leben und der Geschichte der Vierzehn teilhaben, ohne jemals voyeuristisch zu wirken. Ganz nebenbei erfährt der Leser noch etwas über die Geschichte des Varietés oder des Zirkus, die Öffnung der protestantischen Kirche im Umgang mit den Medien, das Schicksal der ungarischen Juden oder der Sinti oder eine Flucht aus der DDR.

Jedes der Poträts ist ein Schmuckstück für sich. Ich habe meist eine Pause danach eingelegt, um das Gelesene ein wenig sacken zu lassen. Oft habe ich mir dann noch einmal das Foto von Dieter Sieg angesehen, das zu Beginn eines jeden Kapitels steht, und es auf mich wirken lassen. Ihm ist es gelungen, die Ausstrahlung der Porträtierten einzufangen, sie so darzustellen, dass die Schilderung für mich rund wurde.

Vierzehn besondere Menschen, mir nun nicht mehr fremd, sondern auf eine merkwürdige Weise nah. Ich hätte keines der Porträts missen wollen, besonders berührt hat mich allerdings Inez Aschenbrenner, die als Lehrerin in einer Schule für taubblinde Kinder versucht, diesen ein klein wenig die Welt zu öffnen.

Hannover? Eine ganz normale Stadt mit ganz normalen ganz besonderen Einwohnern!

Birte Vogel, Dieter Sieg: Hannover Persönlich. Seewind Verlag 2011, 280 Seiten, mit Lesebändchen, Euro 19,90, ISBN 978-3-9814559-0-8

Die Porträtierten: Werner Buss, GOP-Kreativchef ; Inez Aschenbrenner, Taubblinden-Pädagogin; Peter Shub, Clown; Margot Käßmann, Pastorin, Grischa Niemann, Radrennfahrer; Brita M. Watkinson, Professorin und DDR-Flüchtling; Hans-Peter Lehmann, Opern-Regisseur; Ramona Richter, Engagement für Sinti; Ingo Siegner, Kinderbuchautor und -illustrator, Gábor Lengyel, Rabbiner; Annika Dickel, Schauspielerin und Artistin; Hans-Jürgen Gurtowski, Fußballschiedsrichter; Astrid Ries, Hutmacherin/Modistin, Burkhard Inhülsen, Filmfestival-Leiter

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