Caritas Führer: Die Montagsangst

Die Angst hat einen Namen. Sie heißt Montag.

Das Mädchen hat Bauchschmerzen. Es ist Montag, und gleich muss es wieder in die Schule gehen. Dort wird es den Fahnenappell geben, es wird, wie immer, auffallen, weil es keine Pionierbluse hat. Wenn es nur nicht nach vorne kommen muss und vor der ganzen Schule bloßgestellt wird!

Der kleine Bruder möchte Geigenunterricht nehmen. Die Prüfung hat er bestanden, die Leihgeige schon bekommen. Aber dann kommt die Nachricht, dass er doch nicht teilnehmen darf. Die große Schwester, Einserschülerin, möchte gerne Abitur machen. Doch dazu müsste sie in die FDJ gehen. Das möchte sie nicht, die Pfarrerstochter ist fest in ihrem Glauben verwurzelt. Sie muss die Schule nach der 8. Klasse verlassen.

Eigentlich ist die Protagonistin eine sehr gute Schülerin und es gibt Lehrer, die sie nicht spüren lassen, dass sie aus einem christlichen Elternhaus kommt und kein Pionier werden will. Andere dagegen schon. Eines Tages handelt sie sehr unüberlegt und reißt einen Artikel von der Wandzeitung. Damit bringt sie ihre ganze Familie in Gefahr …

Caritas Führer schildert die Ängste und Nöte, letztlich den ganz normalen Alltag einer unangepassten Schülerin im DDR-Schulsystem. Sie ist als Tochter eines Pfarrers im Erzgebirge aufgewachsen und hat die geschilderten Ereignisse so oder so ähnlich erlebt. Das Buch ist nicht wie ein Roman aufgebaut, sondern verschiedene, zunächst zusammenhanglose Szenen werden schlaglichtartig beleuchtet. Erst nach und nach erschließt sich dem Leser die Familiensituation. Es gelingt ihr sehr gut, die Beklemmung zu vermitteln, die die Schule bei ihrer Protagonistin auslöst, aber auch die Sorgen der Eltern. Ich – aus Hessen stammend, seit annähernd 13 Jahren in Thüringen lebend – habe von Freunden und Bekannten schon viel über das DDR-Schulsystem erfahren, auch aus der Sicht eines Pfarrerkindes. Trotzdem hat diese konzentrierte Zusammenfassung – die eigentliche Erzählung ist nur knapp 80 Seiten lang – mir einen neuen, intensiven Einblick gewährt. In diesem Ausmaß war das Unterdrückungssystem mir nicht bewusst, oder vielleicht hat das Buch einfach stärker gewirkt, weil nicht nur Fakten aufgezählt werden, sondern die Gefühlsebene stark angesprochen wird.

Wer kann sich nicht an einen oder viele Schultage erinnern, an denen er mit Bauschschmerzen in die Schule ging? Nicht ordentlich für eine Arbeit gelernt, Unterricht bei einem Lehrer, der einen auf dem Kieker hatte oder die Angst, von Mitschülern drangsaliert zu werden. Deswegen konnte ich gut nachvollziehen, wie sich das kleine Mädchen fühlt. Aber das Ausmaß des Unwohlseins, der Angst, der Benachteiligung, kann sicher keiner nachvollziehen, der es nicht erlebt hat. Doch besser verstehen kann man es, nachdem man dieses Buch gelesen hat!

Sehr aufschlussreich auch der später entstandene zweite Teil, in dem die Autorin schildert, wie es zur Veröffentlichung des Buches kam und was sie auf ihren Lesereisen erlebte. Von „Genau so war es“ bis zu „Das ist doch alles gelogen!“ hat sie jede Reaktion erfahren. Heute liest sie oft in Schulen und trifft dabei teilweise auf starkes Interesse bei den Jugendlichen, teilweise wird sie aber auch mit Abwehr und Desinteresse konfrontiert.

Eine Muss-Lektüre für alle, die sich dafür interessieren, wie in der DDR mit Schülern umgegangen wurde, die nicht stromlinienförmig den von oben verordneten Weg gegangen sind.

Caritas Führer: Die Montagsangst. Mit einem Vorwort von Marianne Birthler. List, erweiterte Neuauflage 2012. 296 Seiten, Euro 9,99, ISBN 978-3-548-61093-1.

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