Jennie Erdal: Die Ghostwriterin

Durch eine ihrer Übersetzerinnen kommt die Schottin Jennie in Kontakt zu einem Londoner Verleger, Tiger, einer äußerst schillernden Persönlichkeit. Er bietet ihr an, als Lektorin für ihn zu arbeiten. Für Jennie, Mutter von drei noch nicht schulpflichtigen Kindern, ist sein Angebot das große Los: Das Gehalt ist gut und vor allem könnte sie von zu Hause aus arbeiten und müsste nur zur monatlichen Lektoratssitzung nach London kommen.

Im Laufe der Zeit lernt sie den exzentrischen Tiger immer besser kennen und rutscht nach und nach in die Rolle einer Ghostwriterin hinein. Sie schreibt Zeitungsartikel und Liebesbriefe in seinem Namen. Nachdem eine als Buch veröffentlichte Interviewserie ein großer Erfolg wird, hat Tiger eine neue Idee: „Er“ möchte einen Roman schreiben. Mit seinen spärlichen, dafür aber recht ungewöhnlichen Ideen versorgt, soll Jennie nun einen Roman aus den Ärmeln schütteln. Immer häufiger fühlt sie sich, als würde sie ihre Seele verkaufen …

Wie sollte ich vorgehen? Schreib über das, was du kennst, hört man immer wieder. Doch was kannte ich eigentlich? (…) Um einen drohenden Panikanfall abuwenden, beschloss ich, alles zu meinen Gunsten aufzulisten. Die Liste war nicht lang, aber es war ein Anfang:

  • Ich habe schon eine Menge geschrieben (nur keinen Roman).
  • Ich habe sehr viele Romane gelesen.

(…) Was die Lektüre anging, ließ sich, so traurig es war, keinerlei Zusammenhang zwischen der Tatsache, Romane gelesen zu haben, und der Fähigkeit, einen schreiben zu können, ausmachen. Ich hatte es bereits geahnt (…).

Der Roman basiert tatsächlich auf dem Leben Jennie Erdals, was stellenweise kaum vorstellbar erscheint. Schilderungen, die mich als Leserin zum Lachen brachten, hätten mich, in der Realität erlebt, zum Wahnsinn getrieben. Tiger ist ein sicherlich liebenswerter Mensch, der ein Händchen für den Umgang mit Frauen hat, aber er hat zahlreiche Marotten, die ich keinen Monat aushalten würde – geschweige denn etwa 20 Jahre! Allein die Vorstellung, ein Auftraggeber würde mich über 40-mal am Tag anrufen, um zu fragen, ob ich vorankomme! Mich herumkommandieren, wann ich zu essen und zu arbeiten habe. Jennie bezeichnet es als Symbiose, sie lebt für Tigers Lob (und für das gute Gehalt, auf das sie angewiesen ist).

Die Schilderung der Arbeit für Tiger wird immer wieder unterbrochen von Rückblicken auf die Kindheit Jennies, wo sie berichtet, wie sie Sprache und Sprachen zu lieben begann. Auch wird geschildert, wie turbulent ihr Privatleben verläuft und wie ihr Tiger, trotz der verschiedenen Charaktere, zu einem Freund wird, der sie im Notfall unterstützt. Auch Betrachtungen über das Übersetzungswesen oder (russische) Literatur fließen ein, die sehr interessant zu lesen sind.

Immer wieder schiebt Jennie das Ende heraus, doch sie fühlt sich immer mehr als Betrügerin, auch gegenüber sich selbst. Auch ihr Privatleben leidet unter ihrer Arbeit, sodass ich als Leserin erleichtert war, als sie sich endlich zu einem Schlussstrich durchringt.

Ein herrliches Buch, das keinesfalls das typische Ghostwriterdasein zeigt – das wäre sicherlich viel langweiliger. Ich habe viel gelacht, war manches Mal traurig und habe mich über Passagen mit viel Stoff zum Nachdenken gefreut. Und ja, Jennie Erdal kann schreiben!

Jennie Erdal: Die Ghostwriterin, Kiepenheuer 2008, 293 Seiten, ISBN 978-3-378-01099-4.

Gerade muss ich feststellen, dass es das Buch nur noch antiquarisch oder in Restexemplaren gibt. Was soll das denn? Tja, leider habe ich es zu spät entdeckt, um ordentlich dafür Werbung zu machen. Sollte sich jemals ein Regisseur oder Drehbuchautor auf mein Blog verirren: Aus dem Stoff ließe sich bestimmt ein toller Film machen!

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