Linn Ullmann: Ein gesegnetes Kind

Jedes Jahr verbringt Erika die Ferien mit ihren beiden Halbschwestern Laura und Molly auf der Insel Hammersö. Für sie, die Tochter aus der ersten Ehe, ist es üblicherweise die einzige Zeit im Jahr, in der sie ihren Vater sieht. Das Gleiche gilt für Molly, das Ergebnis eines Seitensprungs. Nur Laura, mit deren Mutter Rosa ihr Vater nun verheiratet ist, darf das ganze Jahr mit ihm verbringen.

Inzwischen sind die Schwestern erwachsen. Sie planen, Isaak, den Vater, zu besuchen, den jede von ihnen sehr lange nicht mehr gesehen hat. Jetzt, als alter Mann, ist er dauerhaft in das frühere Sommerhaus gezogen. Die drei erwachsenen Frauen denken an die vielen Sommer auf Hammersö zurück, vor allem aber an den letzten, in dem etwas Furchtbares passiert ist – was, das erfährt der Leser erst ganz am Schluss.

Das Buch ist grob in drei Teile geteilt, einen für jede der Schwestern. Manche Kapitel werfen einen Blick auf ihr aktuelles Leben, bei anderen handelt es sich um Rückblicke auf die Ferien der Kindheit. Schnell wird klar, dass damals ein Unglück passiert sein muss. Mehrfach wird erwähnt, dass die Ferientradition abrupt abgebrochen wurde, viele Andeutungen weisen auf etwas Düsteres hin.

Die Schwestern sind sehr verschieden, auch der Alterunterschied ist groß, da ist es nicht erstaunlich, dass sich auch die Erinnerungen stark unterscheiden. Eigentlich lieben sie alle die wochenlange relative Freiheit der Sommerferien, aber das Leben dort ist auch mit Schwierigkeiten verbunden. Erikas Clique hat strenge Regeln, wer nicht mitzieht oder wessen Nase nicht passt, wird gnadenlos gemobbt. Ekelerregende Mutproben gehören ebenso dazu wie sexueller Missbrauch aus einer Laune heraus, als Experiment. Eine wichtige Rolle spielt Ragnar, Erikas bester Freund, den sie aber lieber verleugnet und verrät, als vor der Clique schlecht dazustehen.

Issak wird von den Mädchen geliebt und gefürchtet. Er weiß, was damals passiert ist, aber das Thema wurde in der Familie später totgeschwiegen. Doch nun suchen die Schwestern das Gespräch mit ihm. Er ist alt geworden, es könnte das letzte Mal sein.

Zunächst fiel es mir etwas schwer, bei den vielen Zeitsprüngen den Überblick zu behalten – die verschiedenen Zeitebenen werden sprachlich nicht unterschieden. Nachdem ich mich etwas eingelesen hatte, kam ich aber gut damit zurecht. Die Kindheitsschilderungen fand ich interessant, geschildert wurde ein vermeintliches Idyll, dessen Schattenseiten offenbar niemand sehen wollte. Mir fortschreitender Lektüre stieg zunehmend Unbehagen in mir auf, denn es wurde immer deutlicher, dass etwas passieren würde. Das war es auch, was mich bei der Stange hielt – ich wollte wissen, was das Idyll endgültig zerstört hat.

Dann gab es die Berichte aus dem heutigen Leben, die ich teilweise als sehr zäh und langweilig empfand. Sicher, sie sollen die Charaktere der Frauen erklären. Es ist offensichtlich, dass alle drei, vor allem aber die beiden Älteren, gewisse Schwierigkeiten haben, im Alltag zurechtzukommen, was vermutlich eine Folge des traumatischen Kindheitserlebnisses sein soll. Trotzdem fand ich es beispielsweise sehr ermüdend, im Detail über Erikas Autofahrt von Norwegen nach Schweden zu lesen, und fragte mich auch bei anderen Szenen, ob eine etwas straffere Schilderung nicht zielführender gewesen wäre.

Die ganze Zeit habe ich auf eine Erklärung des Titels gewartet. Welches des Kinder war nun das gesegnete? Auch hatte ich Vermutungen, wer Ragnars Vater sein könnte. Beide Fragen wurde aber nicht geklärt.

Eine stellenweise spannende Aufarbeitung eines Kindheitstraumas, die leider immer wieder von zähen Passagen unterbrochen wird. „Das gesegnete Kind“ war keine schlechte Lektüre, aber auch kein Lesegenuss.

Linn Ullmann: Ein gesegnetes Kind. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Knaur 2008. 400 Seiten, Euro 8,99, ISBN 978-3-426-63448-6 bei amazon

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