Ursula K. Le Guin: Die Enteigneten

Die Menschen auf dem Planeten Anarres sind vor etwa 170 Jahren von Urras gekommen. Sie alle waren Anhänger von Odo, die besitzloses Leben predigte. Nun leben sie in einer großen Gemeinschaft. Wer etwas benötigt, geht in ein Lager, um es zu holen. Geld gibt es nicht. Jeder arbeitet in dem Beruf, der ihm gefällt oder auf der Stelle, die ihm zugewiesen wurde. In jeder Dekade leistet er einen Tag Gemeinschaftsarbeit, ab und zu wird er zu längeren Einsätzen herangezogen, beispielsweise einem Aufforstungsprojekt. Gegessen wird in Gemeinschaftssälen, die meisten Menschen wohnen in Wohnheimen. Paare können dort ein Doppelzimmer bekommen, es gibt auch Zimmer für eine Nacht (oder mehrere), die sich Pärchen nehmen können. Kinder leben ab etwa zwei Jahren ebenfalls in Wohnheimen. Werden die Eltern versetzt, was häufiger vorkommt, nehmen sie die Kinder mit oder auch nicht. Das Leben auf dem Planeten ist arm, denn es gibt keine Tiere außer Fischen, aber die Menschen teilen, was sie haben. Es gibt keine Regierung und keine Macht. Zumindest in der Theorie.

Wir lernen Shevek kennen, ein Kind in einem Wohnheim, dessen Mutter versetzt wurde, dessen Vater aber blieb und sich um ihn kümmert. Er hat viele ungewöhnliche Ideen, die Lehrer und Mitschüler nicht verstehen, und wird deswegen getadelt. Später wird er Physiker. Er hat herausragende Fähigkeiten und schreibt ein Buch, das aber auch unter dem Namen seines Mentors, Sobek, veröffentlicht wird. Spätere Schriften von ihm werden gar nicht mehr veröffentlicht, weil Sobek der Kommission (Papier ist knapp) davon abrät. Vorher bekommt Shevek durch ihn aber die Möglichkeit, die Sprache eines Volkes von Urras zu lernen und seine Schriften dorthin zu schicken. Von einem Preis, der Shevek auf Urras verliehen wird, berichtet Sobek aber nichts.

Shevek erlebt viele Enttäuschungen, kann nicht mehr als Physiker arbeiten. Doch seine Liebe zu Takver,die jedoch versetzt wird, gibt ihm Kraft,  … Viele Jahre später fasst Shevek den Plan, nach Urras zu reisen, um dort als Physiker zu arbeiten. Er wird als Verräter betrachtet, doch er setzt seinen Kopf durch – eigentlich gibt es ja niemanden, der die Macht hat, es ihm zu verbieten – und erlebt das Leben der Besitzenden, seine Annehmlichkeiten und Ungerechtigkeiten. Zuerst ist er beeindruckt, doch immer häufiger schockiert. Schließlich kommt es auf Urras zu einem Aufstand …

„Die Enteigneten“ wurde ursprünglich bereits 1974 unter dem Titel „The Dispossed“ veröffentlicht. Auf Deutsch erschien es zunächst unter dem Titel „Planet der Habenichtse“. Dies entspricht dem Originaltitel weniger, dafür aber besser dem Inhalt, wobei es sehr (ab)wertend ist. Aber wer wurde enteignet? Niemand. Die Siedler gingen freiwillig auf den kargen Planeten Anarres, weil sie auf Urras eben nicht die Besitzenden waren, jedenfalls zum großen Teil. Das dargestellte Leben ähnelt in manchem einem israelischen Kibbuz. Das Buch beschreibt die Utopie eines besitzlosen Lebens, kontrastiert mit dem für manche Menschen sehr üppigen Leben auf Urras. Doch das Leben auf Anarres sorgt für Probleme, die deutlich machen, dass die Utopie nicht hunderprozentig funktioniert. Es gibt nämlich doch Menschen, die eine gewisse Macht ausüben, sei es der „Oberphysiker“, die Menschen von der Arbeitsverwaltung oder die Mitglieder der Syndikate, die über Dinge wie Papierzuteilungen entscheiden können. Meiner Meinung nach würde die geschilderte Gesellschaft aber auch aus anderen Gründen nicht funktionieren. Auf Anarres lehnt kaum jemand eine zugewiesene Arbeit ab, denn alle sind sich einig, dass auch harte, schmutzige, unangenehme Arbeit erledigt werden muss. Ich bezweifle, dass das auf Dauer ginge. Ein Physiker würde sich womöglich weigern, mitten aus einem Projekt gerissen zu werden, um mehrere Wochen oder gar Monate in der Landwirtschaft zu arbeiten. Angeblich gibt es keinen Besitz. Aber es gibt Leute, die aus Spaß als Juweliere arbeiten und Schmuck herstellen. Würden die Besitzer diesen Schmuck wirklich hergeben und „teilen“, wenn er einem anderen gefiele? Ein Kind stellt Tassen für die Eltern her. Das ist ja auch ein Andenken, würden sie sie wirklich hergeben, wenn ein anderer sie bräuchte? Würden Paare sich wirklich von der Arbeitsvermittlung auseinanderreißen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken? Ihre Kinder in Wohnheime geben und unter Umständen zurücklassen? Manche vielleicht, aber alle gewiss nicht.

Obwohl diese Utopie also, wie alle Utopien, viele Haken hat, trägt sie auch viele überzeugende Elemente in sich. Dies wird besonders deutlich, als Shevek nach Urras reist und überall nur Luxus und Wohlergehen erlebt. Elendsviertel bekommt er natürlich – zunächst – nicht zu Gesicht. Er beginnt, das gute Essen und die Annehmlichkeiten zu genießen, bis er merkt, dass er sich kaufen lässt – sie wollen seine Theorie.

Das Buch lässt sich in weiten Teilen sehr gut lesen, wenn es auch nicht immer einfach ist, der Leser wird ziemlich gefordert, will er den Gedanken und Theorien folgen. Sheveks Geschichte ist interessant und spannend und die Neugier des Lesers zu erfahren, wie die Dinge auf Anarres organisiert sind, wird immer wieder geweckt. Es gibt jedoch auch Passagen, die ich langweilig fand, vor allem Sheveks physikalisch-philosophische Überlegungen oder auch teilweise die gesellschaftskritischen Diskussionen mit seinen Freunden. Solche Stellen habe ich ein wenig quergelesen. Ein solcher Text ist ja vor allem deshalb gut, weil er einen dazu bringt, die eigene Gesellschaft im Vergleich dazu kritisch zu betrachten und ihre Schwachpunkte zu sehen. Trotzdem hat mich die Utopie nie vollständig überzeugen können, weil Menschen eben sind, wie sie sind: machthungrig, neidisch, raffgierig. Ein kleiner Anteil solcher Menschen reicht meines Erachtens schon aus, um ein ideales Zusammenleben unmöglich zu machen. Außerdem werden in der Utopie bereits problematische Aspekte angesprochen, beispielsweise das Verhalten von Menschen während einer Hungersnot, als die Bereitschaft zum Teilen schlagartig versiegt.

Ein interessantes und lesenswertes Buch, dessen Lesegenuss jedoch durch die vielen, vielen Fehler darin getrübt war. Häufig fehlen ganze Wörter, auch Grammatikfehler sind nichts Ungewöhnliches. Das ist schade!

Cover_LeGuin_Enteigneten

Ursula K. LeGuin: Die Enteigneten. Eine ambivalente Utopie. Edition Phantasia 2006. Neu übersetzt von Joachim Gröber auf der Grundlage der Übersetzung von Hiltrud Bontrup. 352 Seiten, Euro 19,90, ISBN 978-3- 937897-20-2 bei amazon

0 Replies to “Ursula K. Le Guin: Die Enteigneten”

    • Stimmt, vielen Dank für den Hinweis! Ich hatte die Rezension aus dem Gedächtnis geschrieben, ohne das Buch vorliegen zu haben, was offensichtlich keine gute Idee war. Ich habe es korrigiert.
      Ich habe kein Problem, mit einzelnen Fehlern in Büchern. Das ist normal und ich erwähne das normalerweise gar nicht. Bei einem Buch, das (vermutlich, hoffentlich) Lektorat und Korrektorat durchlaufen hat, sollten sie sich dennoch in Grenzen halten und nicht derart häufen.

  1. Ich kann das nur bestätigen. Es liest sich wirklich sehr eingeschränkt. Auf meine Anfrage beim Verlag, war die Antwort, dass leider nicht die korrigierte Fassung in Druck geschickt worden sei (??). Ich hoffe seitdem auf eine 2.Auflage in korrigierter Fassung.

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