Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen

Vor einiger Zeit las ich in einem Buchblog (leider weiß ich nicht mehr, welcher es war) eine Rezension von Das Meer am Morgen und setzte es umgehend auf meinen Wunschzettel. Ein sehr guter Entschluss, denn mir hat das schmale Büchlein sehr gut gefallen.

Beschrieben werden die Schicksale zweier Familien, die Handlung setzt im Sommer 2011 ein. Der kleine Farid wächst in einem libyschen Dorf am Rand der Wüste auf. Er ist glücklich in seiner kleinen Welt mit seinen Eltern, seinem Großvater und der Gazelle, die jeden Tag in den Garten kommt und sich immer näher an ihn heranwagt. Doch dann bricht die Revolution aus und sein Vater kommt ums Leben. Seine noch sehr junge Mutter Jamila beschließt, mit dem Kind nach Europa zu flüchten. Beide landen auf einem schrottreifen Kahn, bei dem es völlig ungewiss ist, ob er es so weit übers Meer schaffen kann …

Vito lebt in Sizilien. Er hat gerade die Schule beendet und weiß noch nicht genau, was er mit seinem Leben anfangen soll. Als er am Strand das Armband eines arabischen Kindes findet, wandern seine Gedanken zu seiner Mutter Angelina, die als Kind italienischer Siedler in Libyen geboren wurde und bis zur Vertreibung der Italiener in Tripolis gelebt hat. Damals hatte die Familie alles verloren und lebte von der Erinnerung. Doch nach dem Sturz Gaddafis ist ein Besuch in der alten Heimat in greifbare Nähe gerückt.

Die vielen Rückblicke ermöglichen es dem Leser, viel über die Geschichte Libyens zu erfahren. Ganz aktuelle Ereignisse wie der Arabische Frühling spielen ebenso eine Rolle wie die italienische Kolonisierung des Landes, von der ich überhaupt nichts gewusst habe, ebensowenig wie von der anschließenden Vertreibung der Italiener. Das Grundthema des Buches sind Vertreibung und Flucht. Die Italiener mussten das Mittelmeer überqueren, weil sie nicht mehr erwünscht waren. In ihrer angeblichen Heimat waren sie jedoch auch nicht willkommen. Die libysche Familie flüchtet vor Armut und Gewalt. Auch für sie stellt das Mittelmeer eine nahezu unüberwindbare Barriere dar. Willkommen ist sie noch viel weniger, die Auffanglager sind bereits mehr als überbelegt.

Mazzantini gelingt es sehr gut, Geschichte und Gegenwart, Realität und Fiktion zu verweben und den Leser zu fesseln. Sie schreibt in einem knappen Stil, der immer schnell auf den Punkt kommt. Es gibt keine langen Exkurse über politische Ereignisse, alles ist eng mit den Protagonisten verknüpft. Es geling Mazzantini sehr gut, die Charaktere mit wenigen Worten zu beschreiben. Nirgendwo ist ein Wort zu viel, und doch hat man den Eindruck, dass alles gesagt wird.

Ich habe bereits viele Bücher gelesen, die die Themen Flucht und Vertreibung behandeln, meist jedoch im Zusammenhang mit den Deutschen im 2. Weltkrieg. Hier geht es um das italienische Kolonialreich und seine Folgen, eine für mich bisher unbekannte Größe, die einen neuen Blick auf das Motiv erlaubt. Das Schicksal der afrikanischen Bootflüchtlinie, das man nur von Nachrichtenbildern kennt, bekommt hier eine sehr persönliche, berührende Komponente.  Einerseits ein schwieriges Buch, das mir sehr nahe- und noch lange nachging, andererseits eine spannende Geschichte, die sich leicht lesen ließ. Bei der nächsten knappen Fernsehnachricht über Bootsflüchtlinge werde ich bestimmt Farid und Jamila vor Augen haben …

Cover_Mazzantini_MeeramMorgen

Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Dumont 2012. 128 Seiten, Euro 16,99, ISBN 978-3-8321-9684-4 bei amazon

Hier gibt es eine Leseprobe (auf das Coverbild klicken).

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