Jojo Moyes: Ein ganzes halbes Jahr

Louisa, genannt Lou, lebt in einer englischen Kleinstadt, deren einziges Highlight eine Burg ist, die in den Sommermonaten viele Touristen anzieht. Lou liebt ihre Arbeit in einem Café und ist entsetzt, als der Besitzer ihr mitteilt, dass er es schließen wird, weil er wegzieht. Sie muss sich nun auf Arbeitssuche begeben, was ziemlich dringend ist, weil ihr Vater gerade ebenfalls seine Arbeit in einer Fabrik zu verlieren droht. Ihre Schwester, die ihr Studium wegen der Geburt eines Sohnes abbrechen musste, würde gerne weiterstudieren. Also wird sie bald ebenfalls nichts mehr zum Familieneinkommen beitragen können und benötigt ebenfalls Unterstützung.

Lou wird vom Arbeitsamt zu schrecklichen Stellen geschickt – sogar Pole-Dancerin soll sie werden. Aber auch die Arbeit in einer Hühnerfabrik macht sie nicht glücklich. Da wird sie zu Will Traynor geschickt. Der ehemals erfolgreiche Businessman, der nach einem Unfall von Hals abwärts gelähmt ist, soll auf Wunsch seiner Eltern Gesellschaft bekommen, später stellt sich allerdings heraus, dass er einen Aufpasser benötigt. Lou hat zunächst große Schwierigkeiten, weil Will sie ablehnt und oft sehr ruppig behandelt. Sie überlegt mehrfach, den Job zu kündigen, wird aber von ihrer Familie überredet, durchzuhalten. Schließlich ist die Stelle gut bezahlt und auf ein halbes Jahr befristet. Zufällig bekommt Lou eines Tages mit, wie es zu der Befristung kam und  beginnt, voller Energie dafür zu kämpfen, die kommenden Wochen und Monate für Will so schön zu machen, dass er wieder Freude am Leben findet und optimistisch in die Zukunft blickt.

Es ist schwierig, dieses Buch zu besprechen, ohne zu viel zu verraten.

Am Anfang habe ich mich ein wenig an dem Buch gerieben, weil ich erst vor wenigen Wochen den Film „Ziemlich beste Freunde“ gesehen habe und mich sehr daran erinnert fühlte: Ein unkonventioneller Mensch aus der Unterschicht arbeitet bei einem Gelähmten, um ihn aufzumuntern. Beide sträuben sich zunächst dagegen, beide stellen anfangs unpassende Fragen, beide scheuen sich vor dem körperlichen Kontakt usw. Aber dann nehmen beide Geschichten doch eine sehr unterschiedliche Entwicklung, sodass es mir schnell egal wurde, dass sie das gleiche Grundthema haben.

Die Figuren sind einerseits sehr klischeehaft: die unbedarfte Lou mit dem ungewöhnlichen Klamottengeschmack, ihr nerviger Läufer-Freund, der ruppige Will, seine distanzierte, arrogante Mutter, sein Vater, der sich in eine Affäre flüchtet, Wills ehemalige Freunde, die nicht wissen, wie sie mit ihm umgehen sollen, Lous ehrgeizige Schwester usw. Wenn auch etwas überzeichnet, blieben sie für mich glaubhaft. Vor allem Lou habe ich schnell ins Herz geschlossen und konnte mich sehr gut in das Auf und Ab ihrer Gefühle einfinden. Nur ihre Geduld mit ihrem Freund fand ich nicht wirklich nachvollziehbar, oder vielleicht doch, wenn man bedenkt, dass sie als Mensch gezeigt wird, der vor Veränderungen zurückschreckt. Jedenfalls war ich froh, als dieses Kapitel abgeschlossen war.

Ich bin immer tiefer in die Handlung eingetaucht und konnte mich ab einem gewissen Punkt nicht mehr lösen. Die letzten etwas 150 Seiten habe ich unter Tränen gelesen und Berge von Taschentüchern gebraucht. Ich habe mich über jeden Fortschritt gefreut und mit Lou auf ein gutes Ende gehofft. (Gut für wen? Ja, genau das ist die große Frage, die hinter dem Buch steht.) Das Ende war für mich vollkommen unerwartet. Wer jetzt aber denkt, dass es ein tieftrauriges oder schwermütiges Buch ist, liegt falsch. Ich habe bei der Lektüre auch sehr viel gelacht

Ein ganzes halbes Jahr ist keins der Bücher, die man liest, sich daran erfreut, dann in die Ecke legt und vergisst. Ich musste es erst einmal eine Woche setzen lassen, um es zu verdauen, bevor ich diese Rezension schreiben konnte. Es ist ein sehr berührendes Buch, das meine eigentlich feststehende Meinung zum Thema Sterbehilfe erschüttert hat. Ich habe diese Frage bisher niemals so sehr aus der Sicht der betroffenen Person betrachtet, habe viel neuen Stoff zum Nachdenken bekommen und werde sicherlich viel differenzierter darüber Denken, wenn ich wieder einmal einen Artikel zum Thema lese.

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte – ein berührendes Buch – ein Buch, das den Leser fertigmacht – ein Buch zum Tränenlachen – ein Buch, das ein wichtiges Thema gekonnt in Romanform aufarbeitet – ein Buch zum Lachen und Weinen … So viele Einordnungen für ein Buch, und alle sind richtig.

Ich möchte dieses Buch wirklich jedem ans Herz legen!

 

Cover_Moyes_GanzeshalbesJahr

Jojo Moyes: Ein ganzes halbes Jahr. Aus dem Englischen von Karolina Fell. Rowohlt 2013. 512 Seiten, Euro 14,99, ISBN 978-3499267031.

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0 Replies to “Jojo Moyes: Ein ganzes halbes Jahr”

  1. Ja, genauso habe ich dieses Buch auch empfunden. Trotz aller Klischees lässt es einen nicht los und erlaubt am Ende, ein schwieriges Thema aus neuen Perspektiven zu betrachten.

  2. hach, jetzt wo ich bei dir die Rezi gelesen habe, habe ich prompt Lust bekommen, es noch einmal zu lesen. Zu doof, dass ich es nur als e-book habe. Da stehe ich im Moment irgendwie gar nicht mehr drauf 🙁 naja, dann lade ich es mir als Hörbuch, zumal es sowieso von meiner Lieblingsfrauenstimme gelesen wird 😉

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