Steven Galloway: Der Cellist von Sarajewo

Während des Bosnienkriegs wurde Sarajewo von 1992 bis 1996 belagert, fast vier Jahre lang. Versorgt wurde die Stadt über eine Luftbrücke. Die Einwohner mussten in ständiger Angst leben, denn von den umliegenden Bergen wurde geschossen. Heckenschützen nahmen oft einzelne Menschen ins Visier, sodass jedes Überqueren der Straße lebensgefährlich war. Im Mai 1992 schlug eine Granate auf einem Markt ein, wo die Menschen gerade nach Brot anstanden. 22 wurden getötet, viele weitere verletzt. Daraufhin spielte täglich ein Cellist an der Stelle, an der die Granate eingeschlagen war.

Diese historischen Fakten bilden die Grundlage für Galloways Roman. Eines Tages steht der namenlose Cellist am Fenster seiner Wohnung und schaut hinunter auf den Markt. Er hat noch Brot, deswegen muss er sich an diesem Tag nicht anstellen. Da hört er plötzlichen einen lauten Knall, alles wackelt. Er braucht eine Weile, um zu verstehen, was geschehen ist. Was mit seinen Freunden und Nachbarn passiert ist, die gerade dort unten waren. Er entschließt sich, für sie zu spielen, für jeden einzelnen, 22 Tage lang. Er zieht seinen Frack an, setzt sich in den Bombentrichter und spielt ein Stück von Albioni, das in den Trümmern des zerstörten Dresdens gefunden worden ist. Das scheint ihm passend.

Der Leser erfährt kaum mehr als das über den Cellisten selbst. Für die Menschen in der Stadt wird er zu einem bedeutenden Symbol, er kommt in ihren Gesprächen vor und beeinflusst ihr Handeln. Das Buch beschreibt wenige Tage im Leben von drei Bewohnern Sarajewos:

Strijela, einst eine ganz normale junge Frau, ist jetzt Heckenschützin. Aus Sarajewo heraus versucht sie, möglichst viele Soldaten oben in den Bergen zu töten, um den Bewohnern ein wenig mehr Sicherheit zu bringen. Da bekommt sie den Auftrag, den Cellisten zu schützen. Es wird vermutet, dass er getötet werden soll, weil er den Menschen Hoffnung gibt.

Kenan will eigentlich nichts anderes, als für seine Familie und die Nachbarin Wasser holen. Dafür muss er allerdings durch halb Sarajewo laufen. Auf seinem Weg liegt auch eine Straße, die häufig unter Beschuss genommen wird und er muss eine der drei mehr oder weniger zerstörten Brücken überqueren. Er ist ein ängstlicher Mensch, aber er weiß genau, dass ihm nichts anderes übrigbleibt.

Dragan müsste nicht unbedingt draußen herumlaufen, aber er möchte zu der Bäckerei, bei der er seit fast vierzig Jahren arbeitet. Er hat zwar frei, aber in der Kantine kann er kostenlos essen und er bekommt Brot, das er mit nach Hause nehmen kann. Sein Zuhause ist die Wohnung seiner Schwester, seit seine eigene zerbombt wurde. Da er sich mit seinem Schwager nicht gut versteht, ist er lieber möglichst wenig dort. Auch für ihn ist der Weg gefährlich, aber unterwegs trifft er Bekannte und immer wieder schweifen seine Gedanken zurück in die Vergangenheit.

Ich empfinde diesem Buch gegenüber wenig zwiespältig . Zwar habe ich sehr interessiert die Erlebnisse der drei Protagonisten verfolgt, aber ich habe dennoch sehr lange gebraucht, um mit ihnen halbwegs warmzuwerden. Galloway schreibt auf eine nüchterne, recht distanzierte Weise, die den Leser irgendwie zum entfernten Betrachter macht, statt ihn in das Geschehen eintauchen zu lassen. Dabei achtet er auf Kleinigkeiten und gerade diese vielen Details machen das Geschilderte glaubhaft und nachvollziehbar.

In den Schilderungen der drei Protagonisten werden immer wieder die schöne Vergangenheit und die triste Gegenwart einander gegenübergestellt. Der Leser bekommt eine gute Vorstellung davon, was für eine architektonisch schöne, vor allem aber weltoffene Stadt Sarajewo einst war. Nun sind viele Viertel Trümmerfelder, fast alle öffentlichen Gebäude wie die Bibliothek wurden zerstört, die Straßenbahn fährt nicht mehr. Die Menschen haben teils resigniert, teils kämpfen sie sich durch, versuchen das Beste daraus zu machen, um auch den nächsten Tag zu überleben – wenn schon nicht für sich, dann doch für ihre Lieben. Manche wachsen auch über sich hinaus. Fast alle wirken älter: Sorgen, Verluste von Angehörigen und Freunden, schlaflose Nächte, aber auch die einfache Tatsache, dass es keine Haarfärbemittel mehr gibt, haben dazu beigetragen. Wenn sie sich begegnen, gehen sie häufig einer Unterredung aus dem Weg. Sie wollen einfach nicht mehr erfahren, wer noch alles gestorben ist oder verletzt wurde. Aber da gibt es diesen Cellisten, dessen Tun zwar auch Verwunderung, aber vor allem Erstaunen hervorruft. Wer es schafft, ihn zu hören, geht daraus gestärkt hervor. Das zu lesen ging mir trotz der merkwürdigen Distanz sehr nahe. Hier werden Menschen in einer Grenzsituation realistisch gezeigt, mit all ihren Ängsten und Hoffnungen.

Auch wenn dem Buch etwas fehlte, was sich für mich schlecht greifen und noch schlechter beschreiben lässt, ist es dennoch ergreifend und lesenswert. Gefühlsmäßig näher bin ich dem Geschehen während der Belagerung von Sarajewo allerdings in Margaret Mazzantinis Roman „Das schönste Wort der Welt“ näher gekommen.

Cover_Galloway_CellistSarajewo

Steven Galloway: Der Cellist von Sarajewo. Aus dem Englischen von Georg Schmidt, btb, 3. Auflage 2010. 240 Seiten, Euro 9,95, ISBN 978-3-442-7389-2.

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0 Replies to “Steven Galloway: Der Cellist von Sarajewo”

  1. Dieses Buch verfolgt mich schon so lange. Es ist immer wieder faszinierend und grauselig zugleich. Grauselig, was den Krieg anbelangt und die Ängste, die er fabriziert. Faszinierend, weil es immer wieder Menschen gibt, die sich gegen soetwas sträuben.

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