Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Die Handlung dieses Romans spielt an einem sehr exotischen Ort, in Nordkorea. Der Leser erlebt einen Großteil des Lebens von Jun Do mit, einem vermeintlichen Waisenjungen. Tatsächlich war sein Vater der Waisenhausleiter, der seinen Sohn nicht vor den anderen Kindern bevorzugen wollte. Wie alle Waisen trägt Jun Do den Namen eines Märtyrers, was ihn zeitlebens als Waisen stigmatisiert, obwohl er nicht müde wird zu erwähnen, dass das ein Irrtum vorliegt. Er berichtet von seiner harten Kindheit, die von Hunger, Kälte und harter Arbeit geprägt war und von seiner Zeit beim Militär, wo er Tunnels nach Südkorea grub und überwachte. Später bekam er einen Spezialauftrag und musste Japaner entführen, beispielsweise weil ein Sprachlehrer gebraucht wurde. Trotz eines bescheidenen Aufstiegs bleibt sein Leben trostlos. Es bewegt sich immer am Rande des Abgrundes und eines Tages landet er schließlich tatsächlich in einem Lager, das er nur knapp überlebt. Im zweiten Teil wird seine Geschichte aus mehreren Perspektiven weitererzählt bis zum turbulenten und überraschenden Ende.

Als ich las, dass dieses Buch in Nordkorea spielt, war meine Neugierde sofort geweckt. Welches Land ist unbekannter, exotischer, fremder? Wie sollte ein amerikanischer Autor einen Roman schreiben, der in diesem Land spielt? Hatte er dieses Setting gewählt, weil er dem vermutlich ahnungslosen Leser, der nichts nachprüfen kann, damit fast alles unterjubeln kann? Tatsächlich hat Johnson Nordkorea im begrenzten Rahmen des Möglichen bereist und hat mehrere Jahre für das Buch recherchiert. Der Leser muss also davon ausgehen, dass die Schilderungen des Alltagslebens halbwegs realistisch sind und manches Ereignis sich ähnlich abgespielt hat oder haben könnte.

Ich war von dem Roman fasziniert, vor allem von dem ersten Teil. Jun Do schildert die Härten des nordkoreanischen Lebens sehr drastisch. Ich konnte kaum glauben, was die Menschen in ihrer Not alles essen, was sie tun, um zu überleben, wie grausam der Staat mit jedem umgeht, der ihm in die Quere zu kommen droht. Allein die Folter, dass in jeder Wohnung Lautsprecher installiert sind, die staatliche Propaganda hineinbrüllen und die offenbar berechtigte Angst einiger Protagonisten, abgehört zu werden. Viele Stellen strotzen vor Gewalt, was manchmal schwer auszuhalten war und mich mehrmals zwang, die Lektüre für eine Weile beiseitezulegen.

Der zweite Teil war schwieriger zu lesen. Ich brauchte eine Weile, um Jun Dos Identitätswechsel zu verdauen und war kurz davon verwirrt, das plötzlich weitere Perspektiven auftauchten, ein Vernehmungsbeamter und die Propagandalautsprecher. Nachdem ich das verstanden hatte, fand ich es aber interessant, nun weitere Blickwinkel auf das Geschehen zu haben, die Jun Do nicht hätte geben können. Gelegentlich nahm die Handlung hier allerdings klamaukhafte Züge an, unterbrochen von tragischen Momenten wie dem Schicksal der Mädchen in den weißen Kleidern, den Töchtern von Jun Dos Kollegen.

Trotz gelegentlicher Probleme fesselte mich das Buch bis zum sehr überraschenden Schluss. Es zeichnet ein düsteres Bild von einem malträtierten Land. Anfangs hatte ich die Illusion, irgendetwas würde geschehen, was das Leben des Protagonisten zum Bessern wenden könnte. Manchmal gab es Ansätze dazu, die aber schnell wieder zunichte gemacht wurden und mich mit einem zwischen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung schwankenden Gefühl zurückließen. Ich habe es in wenigen Tagen gelesen, was ich jedem nur empfehlen kann. Ich glaube, dass es nach längeren Pausen schwierig sein könnte, den Faden wiederaufzunehmen. Lange hatte ich die Hoffnung, dass vieles in diesem Roman lediglich der Fantasie des Autors entsprungen ist, stieß jedoch zufällig auf einen Zeitungsartikel über die nordkoreanische Praxis, Menschen zu entführen, die benötigt werden wie beispielsweise Sprachlehrer. Während im Roman eine Opernsängerin entführt wird, deren Stimme Kim Jong Il gefällt, war es in der Realität ein südkoreanischer Regisseur, der Filme für ihn drehen musste. Anderes stammt wohl aus Berichten von Nordkoreanern, denen die Flucht gelungen ist. Dass ein Regime tatsächlich so mit seinem Volk umgeht, war mir natürlich bewusst, es macht das Gelesene aber schwerer erträglich, als wenn es eine reine Fantasie gewesen wäre.

Das Gelesene hat mich auch in den Lesepausen und an den Tagen danach noch beschäftigt. Es ist selten, dass ein Roman meine Gedanken so lange fesselt, auch wenn ich schon an einem anderen Buch lese. Es ist sehr eindrücklich und hat meines Erachtens zu Recht den Pulitzerpreis erhalten. Auch wenn einige Stellen für mein Empfinden holprig waren, kann man das vernachlässigen, wie ich finde.

Cover_Johnson_WaiseJunDo

Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do. Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger. Suhrkamp 2014. TB 685 Seiten, Euro 10,99, ISBN 978-3-518-46522-6. Zur Verlagsseite – bei Amazon

Ich danke dem Suhrkamp-Verlag für das Rezensionsexemplar.

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