Ulla Hahn: Spiel der Zeit

Nachdem ich von den ersten beiden Teilen der Trilogie Ulla Hahns so begeistert war, habe ich mich sehr gefreut, dass Band 3 der Lebensgeschichte von Hilla Palm nun erschienen ist.

Das Arbeiterkind Hildegard, meist immer noch Hilla genannt, hat das Abitur am Aufbaugymnasium geschafft und zieht nun zum Studium nach Köln. Sie wohnt in einem katholischen Wohnheim, in dem sie schnell Freundinnen findet, und finanziert sich über das Honnefer Modell (ein BAFöG-Vorläufer), das ihr nicht nur Geld, sondern auch Gutscheine für einen Mittagstisch gewährt. Außerdem nimmt sie alle möglichen Aushilfsarbeiten an, beispielsweise arbeitet sie als Statistin fürs Fernsehen. Mit Begeisterung stürzt sie sich auf ihr Studium, saugt die Inhalte auf wie ein Schwamm.

In Köln versucht sie sich auch von ihrer Vergangenheit abzunabeln, doch die Vergewaltigung liegt ihr immer noch wie ein Klotz auf der Seele. Gegenüber dem anderen Geschlecht bleibt sie erst einmal auf Distanz, bis sie bei einer Feier Hugo kennenlernt, der (leider) aus einer reichen und sehr angesehenen Kölner Familie stammt. Dies bringt einige Probleme mit sich, da die Familie über die Beziehung mit der Arbeitertochter nicht begeistert ist und Hilla sich unwohl und verachtet fühlt.

Das Ganze spielt in einer turbulenten Zeit, in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre. Die Ereignisse um die ungewollt schwangere Gretel zeigen, wie sehr moderne Zeiten und alte Ansichten noch miteinander konkurrieren – und das nicht immer siegt, was wir aus heutiger Sicht als vernünftig bezeichnen würden. Die Tötung Benno Ohnesorgs während einer Demonstration gegen den Schah, die Studentenunruhen, Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg, das Sprengen von einzelnen Vorlesungen, Reden (zum Beispiel von Rudi Dutschke), Diskussionen über das Verhältnis von Arbeitern, Studenten und der Gesellschaft an sich, die Flower-Power-Bewegung, das alles fällt in diese Zeit und Hilla steckt mittendrin. Mit den Kommilitoninnen und vor allem Hugo diskutiert sie die Ereignisse und Umbrüche der Zeit. Viele Ansichten sind Hilla zu radikal, sodass ihr Blick teilweise eher Distanz zeigt. Die Kommentare der Familie erweitern die Darstellung um die Meinung anderer Schichten, sodass ein schönes Bild der Zeit gezeichnet wird.

Ein anderes wichtige Thema für Hilla und Hugo (der auch Germanistik studiert) sind die Studieninhalte und Lektüren sowie die katholische Kirche. Zu Anfang des Studiums macht sich Hilla Gedanken über den Verlust des leidenschaftlichen Lesens durch das wissenschaftliche Lesen, erst im Laufe der Zeit findet sie heraus, dass beides seine Berechtigung hat, dass beides nebeneinander existieren kann. Darin habe ich mich sehr wiedergefunden.

Auch anders zu lesen, musst du dich wieder trauen, drängte der Freund. … Selbst als Germanist darfst du wieder lesen, wie du als Kind gelesen hast. S. 221

Seitenweise wird dann beispielsweise über Saussure diskutiert, bevor wieder Mao an der Reihe ist. Hier fand ich, dass das Buch manchmal an Bodenhaftung verliert. Ich konnte mich durchaus für die germanistischen Themen begeistern, habe ich doch selber Literatur- und Sprachwissenschaft studiert und fühlte mich stellenweise in meine Studienzeit zurückkatapultiert. Das hat mir anfangs großen Spaß gemacht, stellenweise wurde es mir aber zu viel und ich frage mich, wie das für Leser sein mag, die überhaupt keinen Bezug dazu haben.

Die politischen Traktate haben mich (jedenfalls in dieser Ausführlichkeit) schon weniger interessiert. Sicher spielten sie damals eine wichtige Rolle und für das Verständnis der politischen Ereignisse und damit des Buches sind sie bis zu einem gewissen Grad erforderlich, aber etwas knapper hätte es auch getan.

Zum Glück nahm die katholische Kirche nicht ganz so viel Raum ein, ich fand es recht interessant, was auf dem Konzil 1967 besprochen und dann doch nicht beschlossen wurde oder wie damals ein Kirchentag ablief. Doch auch hier gab es einige Passagen, die mich langweilten. Besonders Hugo doziert hier viel. Amüsiert hat mich eine Stelle, an der ich dachte, dass es mich jetzt aber wirklich langweilt. Genau in diesem Moment sagt Hilla zu Hugo, dass es sie langweilt. Die Autorin scheint sich also sehr wohl darüber im Klaren zu sein, vielleicht möchte sie erreichen, dass der Leser ihre Gefühle nachempfindet.

Was mir aber eindeutig zu viel wurde, waren die vielen Seiten, die Ezra Pound gewidmet sind. Auch wenn das Thema Hilla und Hugo wochenlang beschäftigte, hätte es doch kürzer abgehandelt werden können. Interessanterweise war sich die Autorin dessen offensichtlich sehr bewusst. Immer wieder ist von dem Buch die Rede, das Hilla eines Tages schreiben wird. Eines Tages erscheint ihr der Geist Ezra Pounds, der zu ihr sagt:

Lass dich nicht zum Kürzen kommandieren.Vor allem in den Passagen, in denen es um mich geht. Denn da geht es auch um dich. (S. 494)

Was für ein Argument. Immer geht es auch um sie!

Ich habe die ersten beiden Bände Das verborgene Wort und Aufbruch 2010 gelesen, weshalb ich etwas in Sorge war, mich nicht mehr richtig daran erinnern zu können, was vorher passiert war. Aber zu meiner Freude musste ich keine Zusammenfassungen nachlesen, nach wenigen Seiten kam die Erinnerung zurück. Auch dieses Buch beeindruckt wieder durch seine sprachliche Macht. Mich berühren wohlgesetzte Worte, manche Stelle musste ich wieder und wieder lesen, nur wegen des Klangs oder der treffenden Wortwahl. Kölsch spielt naturgemäß eine wesentlich geringer Rolle als vorher, dafür nimmt Sprachgeschichte einen größeren Raum ein, ebenso wie Gedichte der Autorin.

Sehr interessant sind die Ausführungen der Autorin zur Abgrenzung zwischen sich selbst und der Protagonistin ihres Buches. Der Roman basiert auf Hahns Leben, aber es ist keine Biografie, nicht alles ist autobiografisch. Immer wieder kommen im Verlauf des Buches Anmerkungen der Autorin, die aus der Distanz, von heute aus, etwas anders sieht, darauf hinweist, dass dieser oder jeder Sprachgebrauch damals noch nicht üblich war (z. B. Flyer) oder dass Erzählerin Hilla etwas damals noch nicht wissen konnte. Diesen gelegentlichen Wechsel der Erzählebene und das Sich-Einbringen der Autorin empfand ich als sehr spannend.

Der Roman umfasst also, nach wie vor sehr interessant, die Lebensgeschichte der Hildegard Palm während zweier Jahre. Gleichzeitig bietet es aber, teilweise zu ausführlich, einen umfassenden Einblick in die Jahre 1967 und 68 und nebenher noch gelegentliche Einblicke in Literatur- und Sprachwissenschaft. Trotz einiger Längen hat mir das Buch gut gefallen, an der einen oder anderen Stelle hätte ihm aber eine Kürzung gutgetan.

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Ulla Hahn: Spiel der Zeit. DVA 2014, 608 Seiten, Euro 24,99, ISBN 978-3-421-04585-0.

Zur Verlagsseite – bei Amazon

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