Krieg auf den Straßen
Wer das Wesen einer Nation ergründen wolle, behaupten Soziologen, brauche sich nur anzusehen, wie die Menschen sich im Straßenverkehr verhielten. Auf Indiens Straßen stirbt alle fünf Minuten ein Mensch. (…) Das motorisierte Chaos fordert hier mehr Opfer als irgendwo sonst auf der Welt.
Ein Weg, um Indien zu verstehen, wäre eine Fahrt einmal quer durchs Land, an die 2.000 Kilometer auf dem National Highway 6 von Kalkutta nach Mumbai (Bombay), denkt Michael Obert. Und um das Ganze zu überleben, möchte er im Lastwagen eines erfahrenen Fahrers mitfahren. Nach langer Suche findet er einen Spediteur, der sich darauf einlässt. Also verbringt er 10 Tage und Nächte an der Seite von Sitaram Roy.
Nach seinen Papieren ist er 24 Jahre alt, nach seinem Aussehen 18. Höchstens. Er sitzt auf einem am Boden festgeschweißten Campingstuhl, gelassen wie ein Buddha, das riesige Lenkrad zwischen die Beine geklemmt.
In diesem 10 Tagen und Nächten erlebt Obert diesen Krieg auf den Straßen hautnah mit. Verkehrsregeln gelten nicht, nur das Recht des Stärkeren. Immerhin, er sitzt in einem Lastwagen, das sind die Starken. Ruhezeiten sind unbekannt, Pausen selten. Wegen der Gefahr, ausgeraubt zu werden, wird im glühend heißen Laster geschlafen. Unterdessen hört Sitaram in Dauerschleife immerzu ein einziges Bollywood-Lied. Mit von der Partie ist ein permanent bekiffter junger Assistent, der dafür zuständig ist, Wasser zu holen und allerlei Hilfsarbeiten auszuführen und der unterwegs abhanden kommt. Die Ankunft nach diesen Tagen scheint wie ein Wunder. Für Obert ist die Tortur zu Ende, doch Sitaram muss zurück auf die Straße.
Ein wahr gewordener Albtraum
Ich kann, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen, wie jemand auf eine solch verrückte Idee kommt. Es ist kaum vorstellbar, doch tatsächlich bedeutet jede Fahrt, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Die Bedingungen sind unvorstellbar. Die Lastwagenfahrer haben außerdem einen sehr schlechten Ruf, gelten als schmutzig, was nicht erstaunlich ist. Viele Gelegenheiten, sich zu waschen, haben sie nicht. Auch ihre Fahrzeuge sind in einem miserablen Zustand. Kein Wunder, für Reparaturen sind sie selbst verantwortlich, müssen sie von den ohnehin knappen Spesen zahlen. Da verzichtet man schon mal aufs Bremsen, um die Bremsbeläge zu schonen – falls noch vorhanden.
Zunächst macht Obert sich noch Notizen über die Orte, die sie durchqueren und alles, was er erlebt, außerdem schreibt er sich Vokabeln auf. Doch mit den Tagen versinkt er in einen Zustand, den ich als irgendwas zwischen Trance und Apathie empfunden habe. Allein die Tatsache, dass ein Lied in Dauerschleife läuft, würde mich wahnsinnig machen. Tatsächlich erfährt er, und damit auch der Leser, einiges darüber, wie Indien funktioniert. Warum Trucker einen schlechten Ruf haben und was sie bei ihrer harten Arbeit verdienen. Wie viel Geld unterwegs für die Bestechung von Beamten draufgeht. Wie manche Städte versuchen, dem Verkehrskollaps zu entgehen und wie manche Fahrer das umgehen. Warum man nach einem Unfall niemals anhalten sollte, um sich um das Opfer zu kümmern usw. Das ist ein neuer, ein sehr ungewöhnlicher und auch intensiver Blick auf dieses Land.
Ich fand die Lektüre des Büchleins, das in jede Jackentasche passt, sehr spannend und intensiv. Eigentlich ist es eine Reportage, die hier in Buchform gefasst wurde. Immer wieder habe ich fassungslos den Kopf geschüttelt. Unvorstellbare Arbeitsbedingungen treffen auf absolut chaotische Verkehrsverhältnisse. Das Buch erscheint wie ein wahr gewordener Albtraum. An der einen oder anderen Stelle fand ich es allerdings etwas knapp. Ich hätte mir mehr Informationen über die Beweggründe des Autors gewünscht, diese Fahrt zu unternehmen. Was hat er beim Blick aus dem Laster alles gesehen? Darüber erfahren wir kaum etwas, was schade ist. Allerdings kann ich nachvollziehen, dass er im Laufe der Zeit apathisch wurde.
Fazit: Wer einmal einen ganz anderen Blick auf Indien bekommen möchte, jenseits aller touristischen Sehenswürdigkeiten und malerischer Tempel, dem sei diese Lektüre empfohlen. Ein kleines Büchlein, schnell gelesen, aber der intensiv einwirkende Inhalt lässt einen so schnell nicht wieder los.
Michael Obert: Karma Highway. Eine Höllenfahrt in die Seele Indiens. Eine wahre Geschichte. Dumont True Tales 2017. 80 Seiten, 10,7 x 15,4 cm, 8 Euro, ISBN 978-3-7701-6970-2.
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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Wow, da bekommt man bei der Rezension schon Beklemmungen. Aber auch Lust es zu lesen….