Karsten Flohr: Zeiten der Hoffnung

Wilhelm vom Schwemer ist Soldat beim 4. Kaiserlichen Garderegiment. Sein Vater, Freiherr Richard Schwemer, war Vizegouverneur der Kronkolonie Togo, wurde aber zwischenzeitlich zum obersten Kolonialbeamten des Reiches befördert. Seine Beziehungen sind bestens, sodass Wilhelm von klein auf all diejenigen kennt, die in Berlin Rang und Namen haben. Viel lieber als an die großen Feiern im Hause Schwemer denkt Wilhelm an die Sommer seiner Kindheit zurück, die er mit seinen Geschwistern auf dem Landgut der Großeltern im Elsass verbracht hat, seine Mutter Hélène ist Französin. Seit langer Zeit ist er in Adèle verliebt, die Tochter des Verwalters, die er aber schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat – in der Militärausbildung gibt es keine Sommerferien mehr.

Das  Handlung setzt an Wilhelms 21. Geburtstag ein, auf dem zu seinen Ehren stattfindenden Ball wird auch seine Verlobung mit der schüchternen Charlotte von Doering bekanntgegeben, obwohl ihm Adèle nicht aus dem Kopf geht. Seine Zukunft ist von den Eltern genau geplant: Vor der Hochzeit soll Wilhelm zunächst einige Zeit nach Togo gehen, dann Karriere beim Militär machen. Charlotte soll später seinen Haushalt führen, sie erbittet aber Wilhelms Erlaubnis, in der Zeit seiner Abwesenheit eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Auch Wilhelms Schwester Elisabeth soll eigentlich heiraten, doch sie engagiert sich lieber für Frauenrechte und möchte studieren.

In Togo hat Wilhelm beeindruckende und schreckliche Erlebnisse, doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Wilhelm wird eingezogen und muss erleben, zu welchen Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten deutsche Soldaten fähig sind. Vor allem schockiert ihn, dass die Franzosen plötzlich Feinde sind. Wilhelm flieht …

Laut Klappentext geht es sich in diesem Buch um eine „Liebe gegen alle Konventionen und Widerstände“. Dem kann ich so nicht zustimmen. Adèle kommt vor allem in der Erinnerung Wilhelms vor, erst relativ spät kommt es zu Treffen zwischen den beiden. Auch Wilhelms Sehnen ist nicht so dominant. Ich denke, es handelt sich eigentlich mehr um die Geschichte einer wohlhabenden Familie am Vorabend und nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mit am interessantesten fand ich die Erlebnisse Wilhelms in Togo. Hier hätte ich gerne mehr über das Leben in der Kolonie erfahren, doch durch eine überraschende Wendung ist der Aufenthalt kürzer als erwartet, vor allem verläuft er gänzlich anders als geplant. Glaubhaft dargestellt finde ich den Schock des jungen Soldaten angesichts der Greueltaten seiner Armee. Diese Szenen gehörten zu den besten des Buches. Die Widerstandsbewegung bleibt dagegen recht blass, das Hin und Her der Kämpfe um den Elsass ist nicht immer ganz einfach nachzuvollziehen. Hier wären vielleicht einige Karten hilfreich gewesen.

Die Figur, die mich am meisten interessiert und gefesselt hat, ist Wilhelms Schwester Elisabeth, die sich gegen die starren Konventionen auflehnt und gerne einmal die Gesellschaft schockiert. Vor Risikien schreckt sie nicht zurück und hilft auch einer Hausangestellten, die schwanger geworden ist. Ob das geschilderte Szenario des Umgangs mit dem Baby realistisch ist, kann ich nicht beurteilen, ich empfand es als ein wenig unglaubwürdig.

Recht unsympathisch Wilhelms Vater, irgendwie blass bleibt größtenteils seine Mutter, obwohl die Rolle der in Deutschland lebenden Französin sicherlich mehr Potenzial gehabt hätte. Erst am Ende gewinnt sie an Format, obwohl ich es merkwürdig fand, dass sie ihre Kinder (es gibt noch jüngere Geschwister Wilhelms) während des Krieges so lange auf sich gestellt zurücklässt, weil ihr das Landgut der Eltern offenbar wichtiger ist.

Die meisten Figuren entwickeln sich im Verlauf der Handlung positiv, bekommen mehr Substanz, je mehr ihnen durch den Aufbruch der Konventionen gelingt, sich in Richtung ihrer wirklichen Interessen zu bewegen. Gut dargestellt ist auch der „ganz normale“, damals alltägliche Rassismus, hier bleibt dem Leser stellenweise die schier die Luft weg, interessant die einblicke in die Frauenbewegung.

Für den leicht irreführenden Klappentext wird der Autor nichts können, ich fand die Familiengeschichte mit Wilhelm als wichtigstem Protagonisten angenehm zu lesen, teilweise war sie richtig spannend. An einigen Stellen hätte es Potenzial für tiefergehende Darstellungen gegeben, die leider nicht genutzt wurden, die Liebesgeschichte hat mich nicht wirklich überzeugt.

Ein lesenswertes Buch mit kleineren Mängeln, das dennoch einige schöne Lesestunden garantiert.

Karsten Flohr: Zeiten der Hoffnung, Insel 2012, 368 Seiten, Euro 14,99, ISBN 978-3-458-35846-6.

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