Said Musa Samimy: Afghanistan. Chronik eines gescheiterten Staates

Blick auf die neuere Geschichte Afghanistans

Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, in dem Stammeszugehörigkeit über Nationalität steht. Dazu kommen verschiedene Religionen: Sunniten, Schiiten und Wahabiten. Die zahlreichen Parteien, die meist vor allem die eine oder anderen Volksgruppe vertreten, orientieren sich alle am Islam, aber in welcher Ausprägung sie seine Anwendung im Alltag, der Politik und Gesetzgebung verankern wollen, ist sehr unterschiedlich. Traditionelle Strukturen wurden von den britischen Kolonialherren, den sowjetischen Besatzern oder den westlichen Unterstützern zerschlagen oder bei den Versuchen einer Neuordnung ignoriert. Das Ergebnis ist Chaos, alle Regierungen scheitern früher oder später, die Kämpfe und Bombardierungen nehmen keine Ende. 40 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, das jährliche Außenhandelsdefizit beträgt 1,5 Milliarden Dollar. Deshalb bezeichnet Samimy Afghanistan als gescheiterten Staat. In seinem Buch zeichnet er alle Entwicklungen nach und sucht nach Erklärungen, warum es zu diesen schwierigen Zuständen kam, ja kommen musste.

Afghanistan befindet sich seit vier Jahrzehnten in einer gesellschaftspolitischen Krise, was zur Gefährdung der Existenz eines auch sonst labilen Staates am Hindukusch geführt hat. Hintergründe dieser mehrdimensionalen Krise chronologisch im einzelnen zu dokumentieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, ist das Hauptanliegen dieses Buches. (aus dem Vorwort)

Berichte, Analysen und Kommentare

Der Verfasser dieses Buches, Said Musa Samimy war Leiter der Afghanistan-Redaktion bei der Deutschen Welle und erster Direktor des Instituts für Afghanistanforschung. Von 1973 bis 2009 hat er zahlreiche Berichte, Analysen und Kommentare zu Afghanistan verfasst, die bei der Deutschen Welle gesendet wurden. Sie hat er für dieses Buch gesammelt. In einem extra geschriebenen einführenden Kapitel geht er zunächst kurz auf die historische Entwicklung des Landes bis 1973 ein.

Die einzelnen Texte sind von sehr unterschiedlicher Länge. Darin kommt es immer wieder zu Wiederholungen, weil in einer früheren Sendung Erläutertes natürlich für die aktuellen Zuhörer wiederholt werden musste. Angesichts der Komplexität des Themas war ich davon nicht genervt, sondern im Gegenteil sehr erleichtert. Das ermöglicht es auch Lesern wie mir, die nicht so gut in der Materie stecken, sich die vielen Namen, Parteien und Ereignisse zu merken.

Auch wenn ich, so lange ich mich erinnern kann, in den Nachrichten und Zeitungen die Geschehnisse in Afghanistan mitverfolgt habe und trotz einiger Bücher, die ich zwischenzeitlich darüber gelesen habe, muss ich gestehen, dass ich vieles immer noch nicht verstanden hatte. Oder ich hatte es zu einem früheren Zeitpunkt einmal verstanden, mir aber leider nicht gemerkt. Dieses Buch hat viel wieder aufgefrischt, aber vor allem viele Zusammenhänge hergestellt, die mir neu waren, und vieles erklärt.

Dieses Buch ist nicht ganz einfach zu lesen, zu groß ist die Fülle an vermittelten Informationen. Ich konnte es daher nicht in einem Rutsch durchlesen, sondern habe immer wieder einige Berichte gelesen. Ich finde es aber gut verständlich, die Erklärungen sind nachvollziehbar. Nach und nach wurde mir auch klarer, welche Ereignisse welche anderen bedingt haben. Leider wird aber auch sehr deutlich, wie verfahren die Situation ist. Es gibt keine einfachen Lösungen, im Gegenteil:

Das Land kann sich von der umfassenden Abhängigkeit vom Westen und der strategischen Willkür der Nachbarstaaten ohne einen Paradigmenwechsel nicht befreien; dazu ist die neue Oligarchie aus den angeführten Gründen weder willens noch fähig. Damit bleibt das Land in absehbarer Zeit im Teufelskreis der Armut und der strukturelleren Krise verhaftet. (S. 366)

Fazit: Eine Fülle von Informationen und Bewertungen hilft, die neuere Geschichte Afghanistans zu verstehen und aktuelle Ereignisse besser einordnen zu können.

Said Musa Samimy: Afghanistan. Chronik eines gescheiterten Staates. Edition Avra 2017. 372 Seiten, Euro 14,90, ISBN 978-3-946467-24-3.

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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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