Ulla Hahn: Das verborgene Wort

Die kleine Hildegard hat einen großen Wunsch: Sie möchte unbedingt lesen lernen – eine Fähigkeit, die in ihrer Familie nicht unbedingt hoch angesehen ist. Nur der Großvater, der ihr immer wunderschöne Geschichten erzählt, versteht ihren Wunsch. Er schenkt ihr gemusterte Steine und erklärt ihr, dies seien Buchsteine. Hildegard sammelt diese Steine und vertraut ihnen ihre Geschichten an. In der Schule lernt sie im Eiltempo das Lesen, liest, was sie nur finden kann – in der Familie gibt es nur ein Heiligenbuch – liebt jedes Buch, das sie bekommt. In der Nachkriegszeit aufwachsend, in einer Familie, in der es ständig an allem fehlt, vor allem aber an Verständnis für ihre Wissbegierde, schafft sie es, auf die Realschule gehen zu dürfen. Doch damit fangen die Schwierigkeiten erst richtig an: Der rheinische Dialekt ist im Weg, sie muss Geld dazu verdienen, die Wirrungen der Pubertät erreichen sie.

Auf 620 Seiten erzählt Ulla Hahn vom Lebensweg der Hildegard Palm, dem Mädchen aus einer armen, streng katholischen Arbeiterfamilie, das viel lieber in der Welt ihrer Bücher lebt, als in der Realität. Der Leser taucht ein in eine Welt, die gar nicht so lange zurückliegt, die manches Mal sehr fremd erscheint, dann aber auch wieder seltsam vertraut. Die vielen in Dialekt geschriebenen Sätze und Passagen stellen dabei zunächst eine große Hürde dar – häufig wurden gerade die Wörter übersetzt, deren Verständnis problemlos klappte, andere blieben ein Rätsel. Lautes Vorlesen war ein Trick, der dabei recht gut funktionierte. Im Verlauf des Buches nahmen die Verständnisprobleme zusehends ab. Hildegard, ihre engere Familie, die weitläufigen Verwandten und die Menschen im Dorf und in der Fabrik werden so gut und lebendig beschrieben, dass sie sie vor dem geistigen Auge Form annehmen. Der Leser bangt mit Hildegard, hofft mit ihr, leidet mir ihr und freut sich mit ihr. Ihre Liebe zu Büchern, zu wohlklingenden Worten und feinformulierten Sätzen ist derart geschildert, dass jeder, der selbst Bücher liebt, ihre Sehnsucht und ihr Verlangen nachvollziehen kann. Ebenso dicht ist die Darstellung der teilweise erdrückenden Atmosphäre in der Familie und der Umgebung, der recht freudlosen Kindheit, des Unverständnisses und der Ablehnung, der Misshandlungen durch den Vater und der endlosen Gebete der Großmutter.

620 Seiten, von denen keine einzige überflüssig ist!

Titel Hahn Das verborgene WOrt

Ulla Hahn: Das verborgene Wort, dtv 2008, 624 Seiten, Euro 9,95 (Taschenbuch), ISBN:978-3423210553

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