Hilla, „dat Kenk vun em Prolete“, hat es geschafft: Sie besucht das Aufbaugymnasium, um das Abitur zu machen. Dafür musste sie als ehemalige Realschülerin bei ihrem Bruder monatelang Latein lernen, so dass sie nun, neben den vielen wundervollen deutschen Wortspielereien, auch die lateinische Sprache seziert. Sie besucht begeistert die Schule. Dort hat sie einen Lehrer gefunden, der ihre Liebe zur Literatur nicht nur teilt, sondern durch die offene und teilweise unkonventionelle Art seines Unterrichts noch verstärkt. Neben der Schule gewinnt auch das andere Geschlecht an Bedeutung. Hildegard lernt einen nicht nur gutaussehenden, sondern auch noch reichen Studenten kennen, der sich in sie verliebt. Daraufhin durchläuft sie eine sehr schwierige Phase, in der sie sich nicht nur über ihre Gefühle klar werden muss, sondern auch darüber, welche Ziele sie im Leben hat. Zielstrebig wie sie ist, setzt sie das Abitur an oberste Stelle – bis etwas passiert, was ihre Liebe zur Poesie schlagartig erlöschen lässt und alles bisher Gewesene ins Wanken bringt. Unterstützung kommt von unerwarteter Seite.
Wunderbar portraitiert Hahn die frühen sechziger Jahre, vor allem die verschiedenen Welten, die in Hillas Umgebung aufeinanderprallen: einerseits die jungen Leute mit schicken Hochfrisuren, wilden Tänzen (Twist), neuer Musik (Beatles), schwermütigen Tönen (Juliette Graco) und philosophischen Gedanken (Sartre), andererseits Hillas weitläufige, oft sehr altmodische Verwandtschaft. Noch immer haben sich viele nicht damit abgefunden, dass das Arbeiterkind, ein Mädchen noch dazu, auf die höhere Schule geht. Andererseits machen die Veränderungen aber auch vor ihnen nicht halt. Im Dorf ziehen moderne Zeiten ein, es wächst, Fremde kommen, geliebte Gebäude werden abgerissen, der Tante-Emma-Laden erhält Konkurrenz vom Supermarkt (köstlich die Darstellung der vom großen Angebot leicht überforderten Frauen!). Und nachdem alle sich damit abgefunden haben, zumindest ein wenig Hochdeutsch lernen zu müssen, hält das Englische Einzug. Hilla muss feststellen, dass Menschen, die sie schon immer kennt, sich von völlig neuen Seiten zeigen und manches erlebt und getan haben, was sie ihnen nicht zugetraut hätte.
Aber nicht nur Trends und Moden kommen zur Sprache, sondern auch die großen politischen Debatten der Zeit: der Umgang mit der Vergangenheit, Wiederaufrüstung, Arbeitnehmerrechte und, in Hillas katholischem Umfeld äußerst wichtig, die Modernisierung der katholischen Kirche.
Wie bereits im ersten Band, „Das verborgene Wort“ (zur Rezension) schwelgt Ulla Hahn in Sprache. Phantasievoll, vielschichtig, reich, nie belehrend, sondern immer perfekt in die Handlung eingebaut, spielt sie mit Sprache und Sprachen. Der rheinische Dialekt verliert dabei an Bedeutung, seine Rolle übernehmen Hochdeutsch, Latein und, in geringem Umfang, Englisch. Die Handlung ist fesselnd und niemals langweilig. Keine der 587 Seiten ist überflüssig.
Nachfolger und Fortsetzungen von hochgelobten Romanen haben es immer schwer. Die hochgesteckten Erwartungen werden dabei häufig enttäuscht. Ulla Hahn hat es dagegen geschafft, die Qualität von „Das verborgene Wort“ mindestens zu erreichen, wenn nicht gar zu übertreffen. Ein Buch, das in jedes gutsortierte Bücherregal gehört!
Ulla Hahn: Aufbruch. Deutsche Verlags-Anstalt, 4. Auflage 2009, 587 Seiten, Euro 24,95, ISBN 978-3421042637
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In dem Roman setzt sich die Autorin mit sehr unterschiedlichen Themen kritisch auseinander. So sind u.a. Werbung, Kirche, Gastarbeiter und soziale Ungerechtigkeit Themen, die oftmals nur “zwischen den Zeilen” angedeutet werden und auf die der Leser gut achten sollte.
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