Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus

Neulich folgte ich in Facebook einem Link zu einer Buchbesprechung bei spiegel-online. Ich las und bestellte das Buch umgehend, obwohl es noch nicht erschienen war. Oft merke ich mir Bücher, die mir interessant erscheinen, für später vor. Sofort bestellen, das passiert höchst selten. Aber das Thema hatte mich sofort gepackt:

1887. Die 23-jährige Journalistin Nelly Bly ist es leid, immerzu über Gartenthemen und Gesellschaftstratsch zu schreiben. Also macht sie sich auf nach New York, wo sie nach längerer Durststrecke eine Anstellung bei der New York World bekommt, der Tageszeitung von Joseph Pulitzer. Man bietet ihr an, eine Undercover-Reportage zu machen: Sie soll „verrückt spielen“ und einige Tage in der Psychiatrie verbringen, um dann über die Verhältnisse dort zu berichten. Sie stimmt zu, obwohl ihr nicht klar ist, wie sie das schaffen soll. Es stellt sich heraus, dass das, was ihr als das Schwierigste erschien, nämlich Mitmenschen, Richter und Ärzte so überzeugend zu täuschen, dass man sie tatsächlich in der Psychiatrie einliefert, ein Leichtes ist. Eines Abends beginnt sie mit ihrer Schauspielerei, am übernächsten Tag ist sie bereits auf Blackwell’s Island angekommen, einer Insel vor New York, auf der alle „Verrückten“ weggesperrt werden und von der es, unter normalen Umständen, kaum ein Entkommen gibt.

Nelly Bly erlebt die entwürdigende Behandlung, die Misshandlungen und das miserable Essen 10 Tage am eigenen Leib. Obwohl sie sich vollkommen normal verhält, sobald sie auf der Insel ankommt, wird das von niemandem erkannt, im Gegenteil: Ihre Vernunft wird als deutliches Zeichen des Wahnsinns gedeutet! Sie unterhält sich mit den Frauen, die dazu in der Lage sind und stellt fest, dass ein großer Teil keineswegs geisteskrank zu sein scheint, dass das Leben dort allerdings dazu geeignet ist, jeden recht schnell in diesen Zustand zu bringen. Neben Hunger, Kälte und erzwungenem stundenlangem Stillsitzen ist es die Hoffnungslosigkeit, dieser Situation jemals wieder zu entkommen, was den Frauen am meisten zu schaffen macht.

Sie selbst wird, wie vereinbart, nach 10 Tagen erlöst. Ihre Artikel erschüttern die Stadt. Umgehend wird mehr Geld für die Psychiatrie zur Verfügung gestellt. Bei einer offiziellen Begehung kurz darauf ist von den geschilderten Missständen nichts mehr zu sehen, die erwähnten Frauen wurden verlegt. Trotzem schenkt man ihr Glauben.

Der Leser mag der Schilderung kaum fassen. So leicht kam man in die geschlossene Abteilung? Und so schwer wieder hinaus? Die Behandlung der Frauen treibt einem fast die Tränen in die Augen. Ich konnte mich jedenfalls nicht des Eindrucks erwehren, dass die Wärterinnen versucht haben, die Frauen möglichst schnell unter die Erde zu bringen. Erschütternd auch die Ahnungslosigkeit von Menschen, die theoretisch besser hätten Bescheid wissen müssen, beispielsweise des wohlmeinenden einweisenden Richters.

Die Erlebnisse Blys erschienen zunächst in zwei aufeinanderfolgenden Artikeln, später etwas erweitert als Buch. In der vorliegenden Fassung wird der ursprüngliche Bericht (der erstmals auf Deutsch erscheint) um ein Nachwort des Herausgebers und Übersetzers ergänzt. Hier berichet er über Blys Leben,  die „Stunt Girls” und den investigativen Journalismus sowie den Zustand der Psychiatrie und die Folgen von Blys Schilderung. Diese Erläuterungen fand ich äußerst hilfreich und interessant, ohne sie hätte ich das Gelesene kaum einordnen können. Ich hätte beispielsweise nicht gedacht, dass es Ende der 1880er Jahre eine ganze Reihe engagierter junger Frauen gab, die investigativen Journalismus betrieben. Bly hat unter anderem als Fabrikarbeiterin gearbeitet, sich von einer Agentur als Dienstmädchen vermitteln lassen, sich in die Hände eines Armenarztes begeben, ist zu einem Zuhälter in die Kutsche gestiegen und in weniger als 80 Tagen um die Welt gereist.

Ein schmales Buch, schnell durchgelesen, doch mit viel Stoff, um lange darüber nachzudenken. Äußerst empfehlenswert!

Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus – Undercover in der Psychiatrie. Aviva 2011. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Wagner. 189 Seiten, Euro 18,50, ISBN 978-3932338489.

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