Susann Sitzler: Geschwister

Die Geschwisterbeziehung wird heute als die

in der Regel am längsten währende, unaufkündbare, annähernd egalitäre menschliche Erfahrung

bezeichnet (S. 16).

Was sind eigentlich Geschwister?

Mit dieser Frage, die auf den ersten Blick eine scheinbar leichte Antwort hat, beginnt die Untersuchung der Beziehung zu diesen ganz besonderen Menschen, die wir Geschwister nennen. Neben leibliche Geschwister treten Halb- und Stiefgeschwister, die mal im selben Haushalt leben, mal beim anderen Elternteil, schon längst ausgezogen sind, weil sie viel älter sind oder erst geboren werden, wenn man selbst den elterlichen Haushalt schon verlassen hat. Fast scheint es unendlich viele Facetten zu geben, die die Autorin alle in den Blick nimmt. Sie kann aus persönlicher Erfahrung viel beitragen: Sie hat eine zehn Jahre ältere Schwester, die auszog, als sie noch klein war, sodass sie einige Jahre wie ein Einzelkind aufwuchs. Nach der Trennung der Eltern heiratete die Mutter erneut, was ihr zwei Stiefbrüder einbrachte. Viele Jahre später heirate ihr Vater ebenfalls ein weiteres Mal und bekam drei Kinder, ihre deutlich jüngeren Halbgeschwister. Aber auch über ihre Familie heraus bringt sie viele Beispiele, mal aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, mal aus der Welt der Prominenten.

Sitzler präsentiert Ergebnisse der Geschwisterforschung, einem recht neuem Forschungsgebiet aus den 1980er-Jahren. Sie zeigt die Bedeutung, die Geschwister für die Entwicklung einer jeden Person haben und die viele Menschen ihr ganzes Leben niemals abschütteln können. Auch wenn sie mittlerweile erfolgreiche Geschäftsleute sind, werden sie bei einem Familientreffen plötzlich wieder zur kleinen Schwester, der man niemals etwas zutraute oder zum kleinen Bruder, der wegen seiner Unsportlichkeit gehänselt wurde. Kaum jemand kennt einen so gut, wie es Geschwister tun, die einen haben aufwachsen sehen. Wenn die Eltern gestorben sind, sind sie meist die einzigen, mit denen man sich noch über Kindheitserlebnisse austauschen kann. Geschwistern stehen wir oft Eigenschaften zu, die wir an Freunden nicht akzeptieren würden. Der Unterschied liegt darin, dass wir uns Freunde aussuchen können. Geschwister bekommen wir und behalten sie ein Leben lang. Selbst wenn man den Kontakt völlig abbricht, bleibt das, was uns geprägt hat bestehen und beeinflusst uns. Auch unsere spätere Liebesbeziehung wird durch die Position in der Geschwistergruppe sowie Zustand und Verlauf der Geschwisterbeziehung beeinflusst.

Sitzler beleuchtet die guten und schlechten Seiten der Geschwisterbeziehung in den Kapiteln Was Geschwister sind, Wobei Geschwister stören, Wo man Geschwister herbekommt, Wie man Geschwister loswird, Wozu Geschwister gut sind. Dabei verknüpft sie die Forschungsergebnisse immer so mit Anekdoten und Familiengeschichten, dass die Theorie gut verständlich wurde. Andernfalls hätte ich das Buch sicher nicht so locker durchlesen können und wollen. Es ist nicht immer leichte Kost und bietet einigen Stoff zum Nachdenken. Für mich, eine kleine Schwester, war die Lektüre sehr interessant und aufschlussreich. Vielleicht zum ersten Mal habe ich begonnen, intensiv darüber nachzudenken, wie mein Bruder seine Position in der Famiie eigentlich erlebt hat. Ich muss ihn unbedingt einmal dazu befragen.

Aber auch die Themengebiete, die mich nicht persönlich betreffen, habe ich mit großem Interesse gelesen, beispielsweise die Kapitel über Patchworkfamilien. Sitzler macht bewusst, wie komplex das Zusammenleben in solchen Familien ist, wie viele Fehler gemacht werden können und dass die Erwartungen der Erwachsenen an die Kinder häufig viel zu hoch sind. Aber auch Themen wie die bürgerliche Kleinfamilie, Die Folgen des Einzelkinddaseins, Brüder und Schwestern in Religionen oder Bünden oder die Frage, wie man sich aus einer unguten Beziehung löst, werden angesprochen.

Es ist eines der Bücher, die man nicht nach den ersten Lesen beiseite legen kann. Es wirkt nach, es löst etwas in einem aus, was es vermutlich zwingend erfordert, manche Kapitel oder Passagen noch einmal zu lesen, um einige Dinge für sich zu klären. Ich denke, dass vor allem Leser, die Probleme in der Beziehung zu ihren Geschwistern haben, hier viel Stoff zum Nachdenken finden werden und vielleicht sogar Möglichkeiten erkennen, wie sie die Situation für sich zum Besseren wenden können.

Cover_Sitzler_Geschwister

Susann Sitzler: Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens. Klett-Cotta 2014. Euro 22,95, 352 Seiten, ISBN 978-3-608-94801-1.

Zur Verlagsseite – bei Amazon

Ich danke dem Klett-Cotta-Verlag für das Rezensionsexemplar!

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