Carmel ist ein etwas ungewöhnliches, oft verträumtes Mädchen. Schon mehrfach ging sie verloren, weil sie ein anderes Verständnis von Zeit zu haben scheint. Als ihre Mutter Beth mit ihr eines Tages einen Ausflug zu einem Märchenfestival unternimmt, passiert es wieder: Carmel ist weg. Doch im Gegensatz zu den früheren Malen ist sie einfach nicht mehr zu finden.
Ich träume oft von Carmel. In meinen Träumen geht sie immer rückwärts.
Immer abwechselnd schildern die folgenden Kapitel das neue Leben Carmels und die niemals endende Suche ihrer Mutter. Carmel, die sich zunächst sperrt, findet sich im Laufe der Zeit mit ihrem Dasein ab, vergisst aber nie ihren Namen, schreibt ihn überall nieder und wehrt sich dagegen, umbenannt zu werden. Ihre Mutter bricht zusammen, gibt nie auf und braucht sehr lange, um zurück in ein halbwegs normales Leben zu finden.
Es ist mir nicht immer leicht gefallen, dieses Buch zu lesen. Das Thema hat mich sehr berührt und die Ereignisse sind sehr glaubwürdig geschildert. Die wichtigsten Charaktere, vor allem Carmel und ihre Mutter, werden detailliert geschildert, als Leser taucht man in ihre Gedanken und ihre Gefühlswelt ein und kann ihr Handeln und Denken sehr gut nachempfinden. Carmel ist sehr sensibel und hat eine besondere Gabe, wäre aber lieber ganz normal und vor allem zu Hause. Ihre Erinnerung ist ihr Trost und wenn sie auch viel mit sich machen lässt, eins lässt sie nie zu – dass man ihr ihre Erinnerung raubt.
In ihre Mutter habe ich mich noch mehr hineinversetzen können. Ihre Verzweiflung, die Wut auf sich selbst, ihre teilweise absurd erscheinenden Suchmethoden, ihr Greifen nach jeden Strohhalm und irgendwann ihre Erkenntnis, dass sie versuchen muss, wieder in einem normalen Leben Fuß zu fassen, das hat mich gepackt und berührt.
Die anderen Charaktere haben oft etwas ein wenig Skurriles, vor allem Gramps und Dorothy, die Lebensumstände sind außergewöhnlich, aber nachvollziehbar. Nur wie der Transport abgelaufen ist, kam mir nicht unbedingt überzeugend vor.
Manchmal hatte ich das Gefühl, nicht weiterlesen zu können, weil ich es kaum mehr ertragen habe. Es gab Momente, wo ich dachte, jemand hat das Mädchen erkannt oder hoffte, dass jemand ihren Namen entdeckt und die richtigen Schlüsse zieht und wurde doch so oft enttäuscht. Das Mädchen, das rückwärts ging ist eines dieser Bücher, die man nicht einfach zur Seite legen kann, wenn man fertig ist. Auch während der Lektüre hat es mich sehr beschäftigt: vor dem Einschlafen, beim Kochen, beim Autofahren habe ich darüber nachgedacht. Was macht solch ein Ereignis mit einem? Was würde es mit mir machen? Hat ein Kind eine Chance, so etwas seelisch unbeschadet zu überstehen?
Der Schreibstil hat mich von Anfang an in die Geschichte hineingezogen und gefesselt, der Wechsel der Protagonisten je Kapitel ist sehr gelungen. Das Ende ist versöhnlich, allerdings wurden nicht alle meine Fragen geklärt – manches bleibt der eigenen Fantasie überlassen. Das hätte gerne ein wenig ausführlicher beschrieben werden können. Das außergewöhnliche Cover, bei dem der Umschlag über den Schnitt geklappt werden kann, sodass er wie ein Schuber wirkt, passt hervorragend zu diesem außergewöhnlichen Buch mit seinen wundervollen Protagonisten.
Ein absolut empfehlenswertes Erstlingswerk, einfach ein atemberaubendes Buch!
Kate Hamer: Das Mädchen, das rückwärts ging. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Arche 2015. 416 Seiten, Euro 14,99, ISBN 978-3-7160-2724-0.
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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Ich bin echt nicht sicher, ob ich mich wagen soll… 😉
Ich finde, du solltest es wagen!
Schöne, neugierig machende Rezension.
Danke! 🙂