Andreas Altmann reiste vier Monate überwiegend mit dem Bus durch Südamerika (2006 ?). Seine Reiseroute hat er nur grob festgelegt. Es gibt Städte, die er früher schon besucht hat und für deren Entwicklung er sich interessiert, Menschen, die er gerne wiedersehen möchte, Orte, über die er etwas gelesen hat, was er recherchieren möchte. Er besichtigt nicht die üblichen touristischen Sehenswürdigkeiten, sondern lässt sich auf Gespräche mit den Menschen ein, die er trifft: Schuhputzer, Prostituierte, Minenarbeiter, Kellnerinnen, Bettler, Sitznachbarn im Bus, Busfahrer, Buchhändler, Politiker … Den meisten stellt er die Frage, ob sie glücklich sind, was, vor allem angesichts der oft prekären Situation der Befragten, überraschende Antworten bringt. Er ist neugierig, tritt aber nicht als Journalist auf, sondern als guter Zuhörer, sodass er sich manchmal wie ein Beichtvater fühlt. Auf diese Weise gewinnt er oft gänzlich unerwartete Einsichten in die Länder und ihre Bewohner, auf jedem Fall dringt er viel tiefer ein als der durchschnittliche Reisende.
Altmann setzt sich neben jemanden und derjenige öffnet ihm sein Herz – so kam es mir beim Lesen oft vor. Natürlich stellt er Fragen, und zwar offensichtlich die richtigen. Aber er sucht sich häufig Gesprächspartner, denen sonst niemand zuhört und die glücklich darüber sind, dass da einer kommt, der sich für ihre Geschichte interessiert. Manchmal spricht er mit Gutsituierten: einem blinden Bürgermeister, einem Buchhändler oder einer Frau, die er vor Jahren auf einem Flug kennengelernt hat. Aber meist interessiert er sich für die normalen Menschen oder gescheiterten Existenzen. So besucht er eine Deutsche im Gefängnis, die wegen versuchten Drogenschmuggels einsitzt und erfährt, wie eine naive Frau über den Tisch gezogen wurde. Er organisiert ein Treffen mit einer alten Dame, die jeden Tag auf dem Markt einkauft und die Lebensmittel an Bedürftige verteilt. Er trifft einen Bettler, der an einem Tag blind ist, ihn am nächsten Tag aber von Weitem erkennt – weil es schon so viele Blinde gab, hat er sich für diesen Tag ein anderes Leiden gesucht. Er kriecht durch niedrige Tunnel in Potosí und trinkt mit den Minenarbeitern. Er trifft auch andere Reisende, wie den jungen Amerikaner, der mit dem Fahrrad durch den Kontinent fährt, oder die Tschechin, die für ihren Freund auf der Suche nach Heilmitteln für Krebs ist. Nebenher liest er Zeitung. Mal sind es regionale Meldungen, die ihn zu einer Recherche veranlassen, manchmal aber auch überregionale Nachrichten, die ihn zum Nachdenken über den Zustand der Welt bringen.
Diese vielen Gespräche, seine Gedanken und Beobachtungen ergeben in ihrer Summe ein facettenreiches Bild der bereisten Länder. Besonders gut gefällt mir die gute Beobachtungsgabe des Autors, wie er ohne Scheu auf die Menschen zugeht und dass er seine Gesprächspartner häufig ein wenig unterstützt: ein paar Pesos, ein paar Schuhe, ein Essen. Nicht immer gefallen mir seine Schlussfolgerungen oder auch seine Handlungen (muss er der im 7. Monat schwangeren minderjährigen Prostituierten unbedingt Zigarillos schenken?). Manches ging mir im Laufe der Zeit auch auf die Nerven, wie seine immer wieder wiederholte ablehnende Haltung der Religion gegenüber, wann immer er mit einem gläubigen Menschen spricht (also ständig) oder seinen Hass auf das Fernsehen und dessen Auswirkungen auf die Intelligenz der Leute. Manchmal fand ich ihn wenig tolerant anderen gegenüber, er präsentiert seine Meinung eben unzensiert. Aber auch, wenn gewisse Passagen polarisieren, finde ich sehr lesenswert, was er schreibt und wie er es schreibt.
Wer mehr über die bereisten Länder erfahren möchte, und zwar die Sicht der einfachen Menschen auf ihr Leben, ihr Land, die Politik usw., dem sei die Lektüre unbedingt empfohlen.
Andreas Altmann: Reise durch einen einsamen Kontinent. Unterwegs in Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile. rororo 8, 2014. 272 Seiten, Euro 8,99, ISBN 978-3-499-24821-4.
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