Kully ist zehn Jahre alt und hat schon eine Menge Länder und Städte kennengelernt: Amsterdam, Brüssel, Paris, Polen, Wien, Salzburg, Italien, Nizza, New York … Eigentlich stammt sie aus Köln, aber ihr Vater, ein Schriftsteller, ist bei den Nazis in Ungnade gefallen. Kully beobachtet mit wachen Augen die Welt um sich herum und beschreibt nicht nur ihr Leben und das ihrer Eltern, sondern auch das Dasein vieler anderer Emigranten. Ihr Vater steckt voller Ideen und Pläne, scheitert aber meist an der Umsetzung. Nie kommt er dazu, den angekündigten neuen Roman zu schreiben, weil er den ganzen Tag damit beschäftigt ist, Geld aufzutreiben. Nie ist genug Geld da, weswegen Mutter und Tochter immer mal wieder als Pfand in einem Hotel oder Café zurückbleiben, während sich der Vater aufmacht, um einen Geldgeber zu finden. Ständig ist die Familie auf dem Sprung, weil wieder einmal ein Visum abläuft. Kullys Vater ist ständig auf der Suche nach einem Verleger, der ihm einen Vorschuss auf sein nächstes Buch gibt oder Tantiemen für veröffentlichte Bücher auszuzahlen hat. Wenn Kullys Vater endlich einmal zu Geld kommt, zahlt er seine Schulden, bezahlt das Hotel und weiter geht die Reise …
Kully kann nicht zur Schule gehen, nur ihre Mutter unterrichtet sie etwas. Doch ihre Schule ist das Leben. Sie lernt zahlreiche Sprachen und viel darüber, wie die Welt funktioniert. Ihre Beobachtungen sind oft sehr entlarvend. Sie scheinen zwar naiv, aber sehr oft erkennt Kully genau, was im Argen liegt. Oft denkt sie über Politik nach, vor allem über den Umgang der Menschen mit Emigranten. Aber auch Themen wie den Umgang mit dem ständigen Geldmangel oder die Frage, warum man eigentlich lebt und ob es nicht besser wäre, einfach tot zu sein, beschäftigen das Mädchen. Auch wenn die Schilderungen der ständigen Flucht, des verantwortungslosen Vaters, der depressiven Mutter, des Hungers und der Sorgen an sich sehr traurig und berührend sind, ist dieses Hörbuch keinesfalls traurig. Kullys treffende Bemerkungen bringen den Zuhörer immer wieder zum Lachen oder Schmunzeln.
Irmgard Keun gelingt es in dem ursprünglich 1938 erschienenen Buch hervorragend, sich in die kleine Kully hineinzuversetzen und die Erlebnisse aus der Kindersicht zu schildern, ohne dass das jemals peinlich oder unpassend wirken würde. Mehr als einmal habe ich aber auch den Atem angehalten oder den Kopf geschüttelt, weil mein Wissensvorsprung über den Fortgang der Weltgeschichte mir die Gefahren bewusst machte, die Kully und ihre Eltern nicht sahen.
Irmgard Keun, deren Bücher von den Nationalsozialisten verboten wurden, lebte selber im Exil und ließ sicherlich eigene Erfahrungen einfließen, die jedoch durch die Kindersicht eine ganz neue Perspektive erhielten.
Die Lesung von Jodie Ahlborn ist fesselnd und sehr gut gelungen. Im Anschluss an die Lesung folgt ein Interview mit dem Literaturkritiker Volker Weidemann über Kind aller Länder und die Biografie der Irmgard Keun, das ich als sehr gute Ergänzung empfand und das mir bei der Einordnung des Gehörten half.
Ein sehr gutes Hörbuch über die Sorgen und Nöte von Emigranten in den 1930er-Jahren.
Irmgard Keun: Kind aller Länder. Gelesen von Jodie Ahlborn. DAV 2016. 4 CDs, 4 h 59 min, Euro 19,99, ISBN 978-3-86231-669-4.
Zur Verlagsseite – Amazon – und in jeder Buchhandlung.
Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.